Die Hexe von Le Grep (Frankreich, Provence)
Unweit von Cabrolles, in jener Gegend, die Le Grep genannt wird, lebte einst eine alte Frau. Sie hatte einen einzigen Sohn, der ein rechtschaffener Bursche war. Er arbeitete fleißig und pflegte seine alte Mutter gut. Eines Tages aber wollte der Sohn sich verheiraten. Zuerst machte sich seine Mutter darüber nur lustig. Als er jedoch auf seinem Wunsch beharrte, wurde sie sehr böse. Sie war gewohnt zu befehlen und alles Geld zu verwalten. Keinesfalls wollte sie zulassen, dass eine andere ihre Stelle einnähme. Sie mochte sagen was sie wollte, der Sohn nahm sich trotzdem eine Frau.
Nun quälte die Alte ihre Schwiegertochter wo sie nur irgend konnte und setzte ihr so sehr zu, dass der Sohn eines Tages zu seiner Frau sprach: „Lasst uns anderswo eine Bleibe suchen.“ Und in der Tat verließen sie Le Grep. Die Alte aber zeterte und tobte, jammerte und klagte und sprach: „Meine Kräfte schwinden, ich bin zu alt zur Arbeit, und ich fürchte mich des nachts allein.“
Das Paar aber hatte zwei Töchter, wunderschöne Zwillinge von sieben Jahren. Sie beschlossen, Gayette, die Kräftigere der beiden, bei ihrer Großmutter zu lassen, auf dass sie dieser zur Hand ginge und ihr Gesellschaft leiste. So geschah es. Das Kind hatte es gut bei der Großmutter. Aber noch immer war die Alte voller Zorn gegen ihren Sohn und sie verbot Gayette bei harter Strafe, jemals von ihrer Mutter zu sprechen. Oft, wenn die Großmutter in der Asche stocherte, in den Töpfen rührte oder mit dem Besen hantierte, machte sie dabei seltsame Bewegungen und murmelte merkwürdige Worte dazu, die die Kleine nicht verstand und die ihr Angst einjagten. Gayette fürchtete sich auch sehr vor dem schwarzen Hahn, der so groß war wie sie selbst. Er schlug oft mit dem Schnabel nach ihr und riss ihr das Brot aus der Hand.
Eines Nachts erwachte Gayette. Sie sah, dass die Großmutter sich am Herd zu schaffen machte. Statt eines Kleides trug die Alte einen staubigen alten Sack. Von ihren Augen ging ein böses Funkeln aus. Der Widerschein der Glut tanzte auf ihrem Kinn und ihrer spitzen Nase und färbte ihr Gesicht ganz rot. Zuerst glaubte Gayette, die Großmutter sei dabei, die Speise für den nächsten Tag zuzubereiten. Am kommenden Tage war der Sonntag vor Fastnacht. Aber wie sollte sie da kochen können, wo doch kaum noch Feuer im Herd war und sie nichts vor sich hatte als einen alten, halb zerbrochenen irdenen Topf?
Nun nahm die Alte einen Pinsel in die linke Hand und schwang ihn im Kreise um den Topf herum und bestrich ihn mit schwarzem Pech. Als der Topf zu glänzen und sich zu drehen begann, sang sie mit ihrer knarrenden Stimme: „Flieg, flieg mein Töpfchen geschwind bring mich dahin, wo die anderen sind.“ Dann war sie plötzlich verschwunden. Gayette fand sich allein vor dem erloschenen Feuer. Sie zog die Bettdecke über sich und wagte kaum zu atmen. Die ganze Nacht fand sie keinen Schlaf. Endlich am Morgen, beim ersten Angelusläuten, hörte sie ein Geräusch wie von herabfallenden trockenen Blättern und siehe, die Großmutter stand wieder vor dem Herde und wischte sich die Hände an ihrem Sack ab.
Gayette wagte nicht mit ihr zu sprechen und tat, als ob sie schliefe. Sonntags durfte Gayette ihre Eltern und ihre Schwester besuchen. Wie gewöhnlich ging sie an jenem Sonntag nach dem Mittagessen von der Großmutter fort. Sie eilte so schnell ihre Füße sie trugen zu ihrer Mutter und erzählte ihr weinend alles, was sie gesehen und gehört. Darob verwunderte sich die Mutter sehr. Sie vermochte nicht, das Kind zu trösten.
Endlich nahm sie Gayette bei der Hand und ging mit ihr nach Le Grep, um mit der Alten zu sprechen. Als diese die Geschichte hörte, erblasste sie. Sie strich Gayette über den Kopf und sprach zu ihr: „Du hast schlecht geträumt, mein armes Täubchen. Wie sollte deine alte Großmutter dich verlassen, die dich doch so sehr liebt? Was soll ich in meinem Alter die ganze Nacht außer Haus? Welchen Schmerz fügst du mir zu, mein süßes Goldkind!“ Und sie vergoss ein paar falsche Tränen.
Am folgenden Samstage wurde die Kleine um Mitternacht abermals durch seltsame Geräusche geweckt. Sie hörte, wie die Alte wiederum sang: „Flieg, flieg mein Töpfchen geschwind bring mich dahin, wo die anderen sind.“ Dann war sie verschwunden. Diesmal versteckte sich Gayette nicht unter ihrer Bettdecke. Sie sprang aus dem Bett und eilte mit bloßen Füßen zum Herd. Rasch nahm sie den Pinsel zur Hand und verfuhr in der Weise, wie sie es bei der Alten gesehen und sang mit ihrem feinen Stimmchen: „Flieg, flieg mein Töpfchen geschwind bring mich dahin, wo die anderen sind.“
Ein kalter Wirbelwind ergriff sie und trug sie davon. Als sie um sich schaute, siehe, da saß sie zwischen den Ästen eines alten Nussbaums oberhalb vom Friedhof. Die Sichel des Mondes leuchtete am Himmel. Unter dem Nussbaum saßen viele dunkle Gestalten im Kreise versammelt. Es waren böse Geister, die hier Rat hielten. Genau unter Gayette saß ein Herr gegen den Stamm gelehnt. Er war in violette Seide gekleidet, die glänzte, als sei sie nass. Mit seinen Zähnen knackte er Nüsse. Beim Krachen der Nussschalen erschauerte und erbebte das kleine Mädchen, denn es war ihr, als knirschten die Gebeine der Toten im Maul des Teufels. Dieser Herr war der oberste Hexenmeister.
Er befahl den Geistern sich zu erheben, sich zu setzen und sich zu drehen. Er stellte ihnen Fragen und gab ihnen Befehle. Mit aufgeblasenen Backen fragte er einen aus der Runde: „Hast du getan, was ich dir befohlen?“ „Ja, ich habe mich auf das Schulterblatt eines Schafes gesetzt, bin damit über das Meer gefahren bis zu der Insel, wo die beiden Gatten wohnen. Ich habe die Frau bei der Hand genommen. Da wurde sie stumm und antwortete dem, der sie liebte, nicht mehr. In einer Woche wird sie tot sein.“
„Das ist wunderbar. Aber höre, der Mann dieser Frau soll den Verstand verlieren. Nimm das gleiche Knochenboot und fahre zu jener Insel und gib dem Manne die Hand. Er wird dann in Gelächter ausbrechen und Gott lästern. Aber verstecke du den Schafsknochen bis dahin gut und trage Sorge, dass er auch kein einziges Löchlein bekommt. Sonst sind wir verloren.“
„Oh, man muss ein Hexer sein, um dieses Schulterblatt zu finden. Ich habe es oben bei meinen Schafen auf dem Gipfel des Garuche versteckt unter dem Schornstein in der Hütte.“
„Gut, nun zu dir, Hexe von Grot, wie steht es um deinen Auftrag?“ Eine Frauengestalt, die mit einem gelben Tuch bedeckt war, antwortete: „Bei Neumond bin ich auf die Jagd gegangen und habe den Wolf gefangen und getötet. Ich habe seine Leber getrocknet und ein Pulver daraus gemahlen. Das Pulver habe ich in meiner Pfeife geraucht, und die Asche mischte ich in den Kräutertee der Oberin des Spitals. Beim nächsten Vollmond wird sie die Tollwut haben.“
„Wie schön! Sie wird alle Welt wie eine Hündin beißen! Aber du weißt, was geschieht, wenn sie Weihwasser aus drei Kirchen trinkt! Dann kommt das Unglück über uns, und wir verlieren unsere Zauberkraft!“
„Seid getrost, Meister, wer wird denn je davon erfahren?“ „Es ist an dir, dafür Sorge zu tragen. Aber nun, wo versteckst du dich, Alte von Grep? Lass uns deine Nase sehen!“ Unter einem Mondstrahl bewegte sich ein staubiger Sack. Gayette erkannte voller Schrecken das Haupt ihrer Großmutter und ihre nackten, mageren Arme.
„Hast du uns das Herz deines schwarzen Hahns gebracht?“ „Noch nicht, mein Herr, es gelang mir nicht, ihn einzufangen. Aber ist er nicht wunderschön? Könnte man nicht einen andern nehmen?“ „Du hast meinen Befehl nicht befolgt. Wenn wir bis zur Fastenzeit das Herz des schwarzen Hahns nicht haben, können wir den Grafensohn von Roquebrune nicht heilen.“
„Zum Teufel mit dem kleinen Grafen. Er soll vom Blitz getroffen werden, verdursten oder ersticken!“ „Wenn sein Sohn stirbt, wird der Graf meinen Bruder, den Sterndeuter, enthaupten lassen. Der Grafensohn entkommt uns nicht. Wir lassen uns schon noch etwas einfallen, aber erst, wenn mein Bruder geflohen ist.“
„Das gibt mir meinen schönen Hahn nicht zurück!“
„Dein Ungehorsam muss bestraft werden. Ich bin nicht gewohnt, dass man nicht auf meine Befehle hört. Morgen ist Sonntag und an diesem Tage haben wir keine Macht. Aber übermorgen verwandelst du dich in eine Wurzel und legst dich auf den Weg nach Castillon. Dein Sohn wird auf diesem Wege in die Berge reiten. Sein Maultier wird an dieser Stelle stolpern und mit ihm zusammen in die Tiefe stürzen. Wenn du diesen und meine anderen Befehle nicht erfüllst, so werde ich dich der Inquisition überantworten und man wird dich lebendig verbrennen.“
Die Alte gab keine Antwort mehr. Als nun alle Geister dem Hexenmeister Rede und Antwort gestanden hatten, erhob sich die versammelte Menge und das Fest begann. Alle nahmen sich bei der Hand und tanzten um den Nussbaum herum und über den ganzen Friedhof hinweg. Die einen behielten ihre menschliche Gestalt, die andern verwandelten sich in Tiere.
Gayette sah rote Katzen, Enten, Eber, Schlangen, dreibeinige Ziegen, Eulen, Kröten, Raben, die sich selbst entzwei rissen um sich in Füchse zu verwandeln, Füchse, die Salamander mit langen grünen Schwänzen ausspien. All das wuselte und wimmelte, hüpfte und sprang ohne auch nur einen einzigen Laut zu verursachen. Immer schneller tanzten die Geister mit wilden Gebärden und teuflischer Wonne. Plötzlich durchbrach ein Hahnenschrei die lebhafte Stille. Da leerte sich der Ort im Nu, so als ob ein Besen darüber gefegt hatte. Gayette fühlte sich von einer gewaltigen Kälte umhüllt, die so schnell verschwand wie sie gekommen. Sie fand sich vor dem Kamin wieder, und die Großmutter stand an ihrer Seite.
Das Feuer war erloschen. In der Dämmerung konnte man fast nichts sehen. Erstaunt fragte die Alte: „Was tust du hier?“ „Mir war, als würdet Ihr im Schlafe seufzen und stöhnen. Ich wollte sehen, ob ich Euch vielleicht etwas Kräutertee geben kann.“
„Du bist ein braves Kind. Ich habe nur einen Krampf im Bein. Aber es ist nicht schlimm. Geh du nur wieder schlafen, du wirst dich noch erkälten.“
Sobald die Alte es ihr erlaubte, rannte Gayette zu ihrer Mutter und erzählte ihr alles, was sie in der vergangenen Nacht erlebt. Diesmal glaubte die Mutter nicht an einen bösen Traum. Sie erschauerte und nahm das Kind fest in ihre Arme. Dann rief sie einen Nachbarn an, der gerade des Weges kam: „Geht doch bei meiner Schwiegermutter vorbei und sagt ihr, dass Gayette krank ist und ich sie einen oder zwei Tage bei mir behalte.“
Dann versprach sie dem Mädchen, dass sich alles zum Guten wenden würde. Ihrem Manne aber erzählte sie nichts von alledem, denn sie wollte zuerst die Bosheit seiner Mutter beweisen. Und sie heckte einen Plan aus. Als der Mann am Montagmorgen wie gewohnt auf seinem Maultier in die Berge reiten wollte, bat sie ihn, ihn begleiten zu dürfen; die Mädchen seien alt genug, um allein die Suppe zu kochen.
Fröhlich stimmte er zu, aber er verwunderte sich sehr, als sie nicht auf das Maultier steigen wollte und auch ihn bat, zu Fuß zu gehen. „Ich bin nicht zufrieden mit diesem Tier“, sprach sie, „ich fürchte, es gehorcht uns nicht und galoppiert uns noch davon.“
Er willigte schließlich ein, und sie gingen den Berg hinan. Sie aber schlug, wie zum Spiel, von Zeit zu Zeit mit der Kreuzhacke auf die größten Wurzeln ein. Endlich waren sie oben auf dem Gipfel angekommen, und die Frau glaubte schon, dass nun alle Gefahr überstanden, da sah sie zu ihren Füßen eine riesige Wurzel, die augenblicklich zu wachsen begann. Das Maultier scheute und stürzte. Sie aber nahm all ihre Kraft zusammen und schlug mit der Kreuzhacke die Wurzel mitten entzwei. Und siehe: Es quoll Blut daraus hervor! Da umarmte sie ihren Mann und erzählte ihm auf dem Heimweg alles, was sich zugetragen. Vor ihrem Hause aber erwartete sie der Nachbar und sprach, dass die Alte krank sei und nach Gayette verlange. „Niemals sende ich ihr mehr mein Kind!“ rief die Frau und sprach zu ihrem Mann: „Lass uns nun hingehen nach Le Grep und sehen, was es mit dieser Krankheit auf sich hat.“
Als die beiden ins Haus der Alten kamen, siehe, da lag sie in ihrem Bette und wimmerte und ächzte, dass es einem durch Mark und Bein ging. Sie hoben ihre Decken und erkannten, dass sie tödlich verwundet war. „Ich hatte einen schrecklichen Unfall“, brachte die Alte unter Stöhnen hervor „Oh, ich weiß, welcher Art dieser Unfall war!“ rief ihre Schwiegertochter, „du bist eine Hexe!“ Und unter Qualen hauchte die Böse ihr Leben aus.
Rasch aber eilte nun ihr Sohn zu jenem Schäfer, der ein Hexer war, fand das Knochenstück und hackte es in Stücke. Da musste der Schäfer, der nun keine Zauberkraft mehr hatte, den Bann von den beiden Gatten auf der Insel lösen. Die Frau wurde gerettet und auch dem Mann konnte der Geist nichts mehr anhaben.
Währenddessen war Gayettes Mutter ins Spital geeilt und hatte der Oberin Weihwasser aus drei Kirchen gegeben. So konnte auch diese aus den Klauen der bösen Geister befreit werden. Der kleine Grafensohn aber lag im Sterben, und es war nur noch ein Tag bis zum Beginn der Fastenzeit. Nur das Hexenmittel konnte ihn noch vor dem Tode bewahren.
Da wurde der schwarze Hahn der Hexe von Le Grep gejagt, und lange, lange ließ er sich nicht fangen. Endlich aber wurde man seiner habhaft und er ward getötet. In gestrecktem Galopp ritt Gayettes Vater zum Hause des Grafen und gab dem Kind das Herz des Tieres zu essen.
Siehe, da schlug der todkranke Knabe die Augen auf und war von dieser Stunde an wieder gesund. Just in diesem Augenblick begannen die Glocken die Fastenzeit einzuläuten.
Als aber der Grafensohn zu einem edlen Jüngling herangewachsen war, heiratete er Gayette, die ihm das Leben gerettet hatte. Gayette aber war wunderschön. Das Paar hatte später drei Kinder, und alle lebten sie noch lange glücklich und zufrieden.
Quelle: Hörger, Marlies (Hg.): Märchen aus der Provence. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. 1988, S. 77-84.