Das Königreich der Sperlingsmenschen

Das Königreich der Sperlingmenschen

 

Vor vielen Jahren lebte ein alter Mann, der war sehr arm. Er besaß nicht einmal eine Hütte, sondern wohnte mit seiner Frau oben am Berge in einer Höhle. Oft ging es ihnen so schlecht, dass die Frau am Morgen mit einer Nussschale die Buchweizenkörner abmessen musste, die sie zu Mittag essen durften. Dabei waren sie aber noch mitleidig, und wenn im Winter Schnee gefallen war, dann fanden sich vor der Höhle die kleinen Vögel ein; denn sie wussten, dass der gute Alte mit ihnen teilte.
Einmal war der Mann an einem kalten Wintertage zum Holzfällen in den Wald gegangen. Da fand er auf dem harten Weg einen halberfrorenen Sperling. Er hauchte ihn warm und trug ihn an seinem Busen mit nach Hause. Als die Frau ihn sah, schalt sie, dass nun jeden Tag noch ein Esser mehr sein sollte. Der Alte aber sagte: „Es soll unser Kind sein.“ Da wurde sie still und war es zufrieden, denn sie hatten keine Kinder.
Der hungrige Vogel war vom ersten Augenblick zahm und zutraulich zu den Alten. Er nahm sein Futter aus ihrer Hand und trank aus ihrem Becher. Als sie sich am Abend vor das Feuer setzten, flog er dem Alten von selber auf die Schulter, blies die Federn auf und nestelte sich behaglich in sich zusammen.

Darüber waren die Alten ganz glücklich und gaben ihm den schönsten Namen, den sie sich ausdenken konnten.
Den Winter hindurch war der Sperling ihre Sorge und ihre Freude. Wenn die Sonne schien, flog er hinaus zu den anderen Vögeln; war das Wetter schlecht, blieb er in der Höhle. Er hörte, wenn er gerufen wurde, und begleitete den guten Alten, wohin er ging. Als aber der Frühling kam und die Berge grün wurden, war er eines Tages verschwunden.
Ängstlich riefen die Alten nach ihm in der Höhle und auf ihrem kleinen Felde, doch er kam nicht. Der Mann ging auf den Hof des reichen Nachbarn; aber der stand mit einer Rätsche vor seinem Hause und hatte alle kleinen Vögel verscheucht.

Da lief der Alte eilends hinab nach der Quelle, wo sein Sperling mit anderen kleinen Vögeln zu spielen pflegte; doch als er unten ankam, fielen die Abendschatten ins Tal und kein Vogel liess sich mehr sehen. Traurig stieg der Alte wieder hinauf. Vor der Höhle stand seine Frau und schaute nach ihm aus. Als sie hörte, dass er vergebens gesucht hatte, wurde sie zornig und schalt auf das undankbare Tier. Der gute Alte verwies es ihr und sagte:
„Frau, du tust unrecht. Kannst Du es ihm verdenken, dass er lieber in die Welt hinaus fliegt, durch die helle Luft über Berg und Meer bis in der Kaisers Garten, statt hier bei uns langweiligen, alten Leuten in der Höhle zu hocken? Er ist noch so jung und unverständig. Und wer weiß, vielleicht kommt er wieder, wenn es kalt wird“.
Doch davon wollte sie nichts hören. Im Herzen aber grämte sich der Alte viel mehr als sie; denn er fürchtete, es könnte seinem Liebling ein Unglück zugestoßen sein.

Nicht lange darauf war er zum Reisig sammeln in den Wald gegangen. In seinem Kummer hatte er des Weges nicht geachtet und war in eine Wildnis geraten, die er früher nie besucht hatte. Als er sich nach der Richtung umsah, glaubte er auf einmal seines Sperlings Stimme zu hören. Er warf sein Reisigbündel fort und eilte dem Klang nach, so schnell ihn seine Füße trugen. Da stand er plötzlich vor einem Abhange und sah mit Staunen vor sich ein weites Tal mit vielen schönen Häusern und Gären, das er nie gekannt hatte.

Es führte ein Weg den Abhang herauf, und auf diesem bewegte sich in goldenen und seidenen Gewändern ein Zug vornehmer Menschen mit Sperlingsköpfen. Der vorderste aber, der schönste und vornehmste von Allen, war der Gast, den er einen ganzen Winter gepflegt hatte. In seiner Freude wollte ihm der Alte entgegeneilen, aber da kam ihm der Gedanke, es könnte den vornehmen Jüngling genieren, dass ihn so ein armer, alter Mann kannte, und er trat vom Wege zurück in den Busch und verneigte sich tief. Aber der Jüngling in den goldenen Gewändern eilte auf ihn zu, umarmte ihn wie einen Sohn und zeigte ihn den Anderen.

Sie kannten ihn Alle, begrüßten ihn freundlich und nahmen ihn mit ins Tal. Dort führten sie ihn in ihre Wohnungen und Paläste und die waren so herrlich, wie der Alte nie etwas gesehen hatte. Sie gaben ihm zu essen und zu trinken und richteten ein großes Fest an. Der gute Alte schämte sich, dass ihm so viel Ehre geschah; aber bald war er fröhlich mit den Anderen.

Am Abend fiel ihm sein, dass er nach Hause müsste zu seiner Frau. Er dankte seinen Wirten und nahm Abschied. Sie wollten ihm viele schöne Dinge schenken, aber er lehnte es ab, sie hätten ihm schon zu viel gegeben. Da brachte ihm noch sein Schützling einen einfachen, verschlossenen Korb, den nahm er an für seine Frau. Sie führten ihn an einen Richtweg und ehe er sich’s versah, war er in wohlbekannter Gegend.
Als er seiner Frau erzählt hatte, wie es ihm ergangen, machte sie neugierig den Korb auf, aber sie fand ihn ganz leer. Da stieß sie ihn beiseite und sagte: „Was sollen wir mit dem alten Bauernkorb! Wenn sie so reich sind, hätten sie Dir auch was Besseres mitgebe können.“ Der gute Alte hob den Korb auf und sagte, als er auch nichts darin fand: „Ich wollte, sie hätten mir ein Stück von dem schönen Kuchen für Dich hineingelegt!“ Kaum hatte er die Worte gesprochen, so verbreitete sich ein lieblicher Duft in der Höhle, und in dem Korbe lag von demselben prächtigen Gebäck, das ihm die Sperlingsleute vorgesetzt hatten. Und das Wunder hielt an: Was er sich wünschen möchte, brauchte er nur zu nennen, dann fand er es in dem Korbe liegend.
Als der reiche Nachbar von dem Glück hörte, ging er zu dem Alten, ließ sich die ganze Geschichte erzählen und fragte genau nach dem Wege. Dann eilte er nach Hause, zog sich wie ein armer Holzfäller an und wanderte in den Wald. Richtig fand er auch das Tal jenseits der Berge; aber niemand kam ihm entgegen.

Er stieg hinab, trat in die Häuser und erzählte den Leuten, was für ein guter Mensch er sei. Sie gaben ihm auch zu essen und zu trinken, als er sie darum bat, und am Abend, als er fort wollte und von einem Geschenk für seine Frau zu reden anfing, brachten sie zwei verschlossene Körbe getragen, einen großen und einen kleinen. Mit gieriger Freude griff er nach dem größeren und schleppte die schwere Last mühsam nach Hause.

Aber als er ihn abgesetzt und sich ihn von unten bis oben voll Geld gewünscht hatte, da flog der Deckel ab, und es kroch ein furchtbares Gespenst heraus, das konnten kein Priester und kein Zauberer aus seinem Hause bannen.
Ein anderer Nachbar dachte, er wollte es klüger anfangen, ging zu dem guten Alten und sagte: „Leih mir doch Deinen Wunschkorb auf ein Stündchen, dass ich mir auch etwas wünsche. Du hast ihn ja schon lange genug, und ich bringe ihn noch heute zurück.“ Freundlich gewährte ihm der Alte die Bitte.

Als der Nachbar den Korb nach Hause trug, dachte er, was er sich nun alles wünschen wollte, um die Zeit auszunutzen. Er wollte ihn so späte als möglich zurückbringe, wenn er auch den Heimweg bei Nacht antreten müsste. Oder er wollte ihn lieber noch die Nacht zu Hause behalten und ihn am nächsten Morgen früh zurücktragen, dann könnte er die ganze Nacht aufbleiben und sich wünschen, dass er für sein Leben genug hätte.
Noch besser wäre, er behielt ihn gleich den nächsten Tag über; eine Entschuldigung sei ja schnell gefunden. Übrigens wäre es wohl auch früh genug, wenn er den Korb in den nächsten Woche oder im nächsten Monat zurückschickte; der Alte könnte ihn immer noch behalten, solange er lebte. Aber was geschah? Als er in seinem Hause den Korb niedergesetzt und den ersten Wunsch ausgesprochen kann, zischte es unter dem Deckel wie tausend Schlagen. Da wagte er nicht, ihn zu berühren, lief hinaus und schickte einen Knecht hinein, der musste ihn dem Alten zurücktragen.
Nun lebte der gute Alte mit seinem Weibe noch lange Jahre in Glück und Frieden und wurde ein Segen für sein ganzes Land. Aus weiter Ferne kamen die Unglücklichen zu ihm und baten um Hilfe. Den Armen konnte er Brot, den Kranken heilkräftige Arznei geben.

Als er aber sein Ende nahe fühlte, da fürchtete er, der Korb könnte bösen Menschen in die Hände fallen, und so trug er ihn eines Tages wieder hinaus zu dem Sperlingsvolk in den Wald.
Da ist er noch jetzt, und wenn Du willst, kannst Du ihn holen.

Märchen aus Japan / Bilder von Angelika Schütte
Märchen für Winter und Weihnacht
Königsfurt Urania Verlag