Der Hüter des Teiches

 

Der Hüter des Teichs.

 

Aus Mandelas Lieblingsmärchen /Zentralafrika (von der Heilfähigkeit der Schlange)

 

In einem weit entfernten Land liegt ein großer See. An einem Ende hat er eine schmale Öffnung durch die sich das Wasser zwängt, um sich von dort  glucksend in die Ebene zu ergießen. Unablässig fließt es dahin durch enge, steinübersähte Schluchten, über Klippen durch braunes Erdreich und grüne Wiesen bis es endlich von drei großen Felsenblöcken eingefasst wird.

 

Tosend sucht sich der Fluss seinen Weg ins Tal. Immer schneller, immer wilder, bis er einen großen Strudel bildet, der alles verschlingt, was in seine Nähe kommt.

 

Die roten und goldenen Blätter, die von den  Umbasabäumen fallen, die Mücken, die über das Wasser flitzen und die Schmetterlinge, die über den süß duftenden, weißen Blüten des Wasserkrautes am Rand des Teiches flattern.

 

Auf dem Grund des Strudels aber liegt ein großer silberfarbener Wasserpython, den langen glitzernden Körper zusammengerollt. Seine Schlangenaugen blinzeln in die Sonnenstrahlen, die aufs Wasser fallen, seine Zunge züngelt vor und zurück.

 

Der schöne, schreckliche, silberne Wasserpython ist der Hüter des Teiches.

 

Doch dies ist kein gewöhnlicher Python, denn seine kalte nasse Haut zu berühren bedeutet Heilung. Heilung von allen Krankheiten und Schmerzen von Männern und Frauen. Heilung für alle, die den Mut besitzen ihn seiner Behausung auf dem Grund des Teichs zu besuchen.

 

Ngosa saß am Rand des Teiches und starrte in den tosenden Strudel. Die Sonne schien ihr auf die glatte, braune Haut und wärmte ihren zitternden Körper.

 

Ihre Mutter war krank, sehr krank. Ngosa wusste, dass sie ihr Hilfe bringen musste, denn andernfalls würde ihre Mutter sterben.

 

Doch die Vorstellung in diese wilden Wasser hinab zu steigen und die silberne Python zu berühren, ihm in die schwarzen Schlangenaugen zu blicken, sich dieser züngelnden Zunge zu nähern, fröstelte es Ngosa trotz der Wärme und sie hatte Angst.

 

Von unten aus dem Wasser starrte Python zu Ngosa hinauf. Er sah, dass sie schön war, wusste, dass sie sich vor ihm fürchtete und sehnte sich danach ihr Mut zuzusprechen.

 

Ngosa hörte jemanden hinter sich schreien. Sie drehte sich um und sah ihre jüngere Schwester über die Felder angerannt kommen.

 

„Ngosa, Ngoas“; rief sie „beeil dich! Unsere Mutter stirbt gleich!“

 

Da stiegen viele Erinnerungen in ihr auf. Wie ihre Mutter sie beruhigt und die ganze Nacht lang Wiegenlieder vorgesungen hatte, nachdem sie von Krokodil fast ins Wasser gezogen wurde.

 

Wie ihre Mutter meilenweit gelaufen war um die rote Rettichwurzel zu finden, mit dem sie die schrecklichen Schmerzen linderte, als Skorpion sie gestochen hatte.

 

Wie ihre Mutter den scheußlich behaarten Pavian verscheucht hatte, der ihren kleinen Bruder aus der Wiege rauben wollte.

 

Wie ihre Mutter stillschweigend ihre Portion Maisbrei mit den Kindern teilte, als die große Trockenheit gekommen war und die Menschen verhungerten.

 

Ngosa sprang in den rasenden Strudel hinein.

 

Python Zunge schnellte noch einmal vor. Dann blieb sie ruhig. Die schwarzen Schlangenaugen schlossen sich. Ngosa streckte die Hand aus und streichelte seine kalte nasse Haut. Dann ruderte sie mit Armen und Beinen wieder an die Wasseroberfläche und raste durch die Felder nach Hause, um die heilende Kraft des Pythons auf ihre Mutter zu übertragen.

 

In dieser Nacht, als der Mond blutrot über den Bergen stand, rollte Python seinen silbernen Körper auf und tauchte langsam empor.

 

Dem Wasser des Teiches entstieg ein junger Mann. Seinen schönen, hoch erhobenen Kopf zierten schwarze Locken. Seine braunen Augen blickten furchtlos. Er hatte kräftige Arme und Beine. Bestimmt war es der Sohn eines Häuptlings.

 

So wie es einst der erste Mensch getan hatte, blickte er um sich und sah, dass die Erde gut war. Er durchschritt die Felder und kam zu einem Halbkreis von Hütten.

 

Im  Gehege käuten die Rinder wider und ihr schwarzweißes Fell glänzte seiden im Mondlicht. Eine Ziege leckte ihr Junges ab.

 

„Ngosa“,  rief er sanft. „Ngosa, dein Mut hat mich gerettet. Als die Wasserhexe mich in eine Schlange verzauberte sank ich auf den Grund des Teichs hinab. Seitdem muss ich für alle Zeiten den Strudel tagsüber bewachen. Aber weil du den Mut besessen hast, darf ich jetzt des Nachts wieder in meine menschliche Gestalt schlüpfen. Nachts darf ich mich denen zeigen, die mutig sind und schön. Mutig bist du gewiss, denn du hast dich zu mir in meiner Pythongestalt gewagt. Und dass du schön bist, sehe ich mit eigenen Augen. Komm!“

 

Ngosa trat aus ihrer Hütte und der Sohn des Häuptlings legte ihr eine Kette aus milchigen, blaugrünen Mondsteinen um den Hals, die auf einer Schnur aus silbrigem Mondlicht aufgereiht waren. Fortan verbringt Ngosa ihre Tage am Rande des Teiches und spielt auf ihrer Ogupu liebliche Weisen, denn Pythons lieben die Musik der Menschen. Nachts aber legt sie ihre Mondsteinkette an und wartet darauf, dass der Sohn des Häuptlings dem Wasser entsteigt.