Vom Reden und Schweigen

Mit einem schönen Gruß von den Nettersheimer Matronen.

 

Reden oder Schweigen

 

Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. 

 

Reden oder Schweigen, das ist die Frage. Ein bekanntes Sprichwort sagt:

 

„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Oder man sagt: „Ich habe oft mein Reden bereut, aber selten mein Schweigen.“ Ich muss zugeben, und ich glaube, es geht uns allen so, dass man manchmal hätte schweigen sollen, anstatt zu reden und reden sollen, anstatt zu schweigen. Eines ist sicher:

 

Die meisten Menschen reden zu viel und hören zu wenig zu.

 

In einem Sprichwort heißt es:

 

„Ein Mensch braucht etwa zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und etwa fünfzig Jahre, um schweigen zu lernen.“

 

Folgende Geschichte erzählt  von einem Mann, der sehr gern und viel zu viel redete. Dies wurde ihm eines Tages zum Verhängnis.

 

In einem Dorf im fernen Afrika lebte ein Mann namens M´bala-M´bala. M´bala-M´bala redete gerne und viel zu viel; er redete von früh bis spät. Man sagte, dass M´bala-M´bala  sogar im Schlaf redete. Wenn man nachts an seiner Hütte vorbei ging, konnte man seine Stimme hören, obwohl M´bala-M´bala allein lebte. Und wenn er auf die Straße ging, lief jeder in dem Dorf davon, ob Mann oder Frau, Klein oder Groß, ja sogar Hunde und Katzen liefen vor ihm weg, aus Angst, wie man bei uns sagt, er würde ihnen die Ohren blutig reden. Nur am Freitag hatten die Menschen ein wenig  Ruhe vor ihm, denn sie gingen in die Moschee, um die Predigt des Imam zu hören- auch diejenigen, die ungern in die Moschee wollten: um M´bala-M´bala zu entkommen und zur Freude des Imam gingen sie lieber zur Predigt. Nur einer ging nicht hin: M´bala-M´bala,  denn er konnte einfach nicht still sitzen und zuhören. Was machte M´bala-M´bala am Freitag? Lieber lief er in die Steinwüste und redete mit den wenigen Wolken, die vorüberzogen. Er redete  mit dem Wind oder auch mit den Eidechsen, die sich regungslos auf den Felsen sonnten.

 

Eines Tages, an einem Freitag, als M´bala-M´bala in die Steinwüste wanderte, sah er zwischen den Steinen einen besonderen runden Gegenstand, der einem Ball ähnelte. Neugierig ging er hin und, siehe da, es war ein Schädel, ein menschlicher Schädel. M´bala-M´bala freute sich, endlich jemanden zum Reden gefunden zu haben. Er setzte sich dem Schädel gegenüber auf einen Stein und begann mit ihm zu sprechen.

 

„Was ist denn geschehen, alter Freund, du alter Schädel?“ fragte er neugierig und klopfte ein paarmal mit seinem Stock auf ihn.

 

„Warst du einmal ein Mann oder eine Frau? Ich glaube, du warst  ein Mann, denn Frauen gehen bei uns nicht allein in die Wüste. Also, du warst ein Mann, das ist sicher. Das halten wir fest. Warst du wohl ein Kaufmann, ein Reisender, ein Abenteurer oder ein einfacher Bettler?“

 

Jedes Mal, wenn M´bala-M´bala mit dem Schädel redete, gab er ihm einige Stockschläge.

 

„Aber all das scheint nicht richtig zu sein, denn die Toten bekommen bei uns ein ehrenvolles Begräbnis. Doch jetzt ahne ich, was du warst:  ein Räuber!“

 

Und wieder klopfte er mit dem Stock auf den Schädel.

 

„Ein Dieb warst du, vielleicht sogar ein Mörder! Ach, wie gerne wüsste ich, warum du deinen Kopf verloren hast.“

 

Plötzlich hörte M´bala-M´bala eine Stimme:

 

„Ich habe im Leben viel zu viel geredet und hätte doch auch einmal schweigen sollen.“

 

M´bala-M´bala erschrak, sprang auf, schaute nach rechts und links und fragte: „Wer hat da gesprochen?“

 

„Ich“, antwortete der Schädel, „du hast mich gefragt, warum ich meinen Kopf verloren habe, und ich sagte dir, weil ich zu viel geredet habe.“

 

M´bala-M´bala rannte so schnell er konnte ins Dorf zurück, eilte  zur Hütte des Stammesoberhauptes und rief aufgeregt: „Mein König, mein König, ein Schädel hat geredet!“ Das Stammesoberhaupt hatte gerade ein köstliches Savannenhuhn verspeist und  sich zum Mittagsschlaf hingelegt. Die zwei Wächter, die vor der Tür standen, jeder eine Lanze in der Hand, versuchten den aufgeregten zu beruhigen und   zurückzuhalten, aber M´bala-M´bala rief laut:

 

„Ich muss zum König, ich muss dringend den König sprechen!“

 

Dieser,  von dem Geschrei wach geworden,  schaute verschlafen zum Fenster hinaus und sprach:

 

„M´bala-M´bala, reicht es nicht, dass du den ganzen Tag redest? Jetzt fängst du auch noch zu schreien an! Was ist geschehen, was willst du von mir?“

 

„Mein König, in der Wüste liegt ein Schädel,  der zu mir gesprochen hat.“

 

Der König antwortete: „M´bala-M´bala,  du hast dich zu lange in der heißen Sonne aufgehalten. Ein Schädel spricht niemals.“

 

„Ich schwöre bei Allah und seinem Propheten, der Schädel hat zu mir gesprochen.“

 

„Was begehrst du?“ fragte der König, „soll ich etwa mit dir in die Wüste gehen?

 

„ Genau darum bitte ich dich, und da du unser König bist, will der Schädel dir sicher eine wichtige Botschaft übermitteln.“

 

„Gut“ meinte der König, „ich werde mit dir gehen, aber wehe, wenn du gelogen hast. Dann hat dein letztes Stündchen geschlagen.“

 

Kurze Zeit später standen der König, seine Garde und M´bala-M´bala vor dem Schädel.

 

M´bala-M´bala sprach: „Schädel, hier ist unser König. Sprich mit ihm.“ Stille.

 

„Schädel, du hast vorher mit mir gesprochen. Hier ist unser König. Bitte sprich, sage doch etwas.“ Stille…

 

Man fühlte, wie in dem König ein heftiger Zorn aufstieg. M´bala-M´bala kniete neben dem Schädel nieder und bat zitternd und stotternd: „Bitte, Schädel, sprich endlich zum König. Bitte, Schädel, bitte rede.“ Stille.

 

Man kann ahnen, was danach geschah. Der König ließ M´bala-M´bala enthaupten und ging mit seiner Garde zurück ins Dorf.  Den Schädel und  den Kopf von M´bala-M´bala ließ er  in der Wüste zurück.

 

Als man den König und seine Garde nicht mehr sehen konnte, wandte sich der Schädel dem Kopf M´bala-M´balas zu und sprach:

 

„Habe ich dich nicht gewarnt? Habe ich dir nicht gesagt, dass du schweigen sollst?“

 

„Ja“, meinte der Kopf M´bala-M´balas, „aber warum hast du  in Anwesenheit des Königs nicht geredet?“

 

„Ich hätte reden können, aber ich wollte nicht, denn ich hatte das Alleinsein satt. Ab jetzt habe ich jemanden zum Reden neben mir.“

 

Die Geschichte sagt nicht, wer mehr oder wer  weniger geredet hat, der Schädel oder M´bala-M´balas Kopf. Aber sie sagt uns: Reden ist Silber und Schweigen ist Gold.

 

 Es wird erzählt, dass man bis heute noch, und zwar jeden Freitag, wenn der Südwind in Richtung des Dorfes weht, bei genauem Hinhören die Stimme  M´bala-M´balas wahrnehmen kann.

 

Solche M´bala-M´balas gibt es in jedem Stamm, in jedem Dorf und in jeder Stadt.

 

Da meine Geschichte zu Ende ist, werde ich schweigen und sage euch: „M´bala-M´bala.“